Gut gemeinte Ratschläge

Beschäftigt man sich als normalgewichtiger oder vielleicht leicht übergewichtiger Mensch nicht mit dem Thema Adipositas, könnte man glauben, die Betroffenen sollten sich einfach nur zusammenreißen. Einfach weniger essen, das muss doch zu schaffen sein? 

 

Manche Angehörigen oder Freunde von Übergewichtigen glauben, dass sie den Betroffenen helfen können, indem sie sie motivieren, weniger zu essen. Das hat meistens gut gemeinte Ratschläge zur Folge. 

 

Es gibt Menschen, die trinken manchmal zu viel Alkohol. Wenn die Fastenzeit kommt oder sie eine andere Motivation dafür haben, trinken sie dann eine Zeitlang nichts und merken, es ist möglich. Andere merken vielleicht, dass der Verzicht auf Alkohol nicht so leicht möglich ist, wie sie dachten. Andere wiederum sind richtige Alkoholiker. Manche von ihnen können irgendwann aufhören, zu trinken, manche nicht. Den meisten Menschen – ob selbst betroffen oder außenstehend – ist aber klar, dass der Tipp "Das nächste Mal nimmst du einfach Mineralwasser statt Bier!" eher nicht zum Erfolg führen wird. Alkoholiker müssen nicht davon unterrichtet werden, dass es antialkoholische Getränke gibt und sie lieber zu denen greifen sollten. Sie müssen herausfinden, wieso sie trinken. Für jede Sucht gibt es tausende Gründe, manche von ihnen sind leichter überwindbar, manche schwerer. 

 

Ich persönlich hatte noch nie ein Problem mit Alkohol. In meiner Studienzeit habe ich zwischendurch viel gefeiert und hatte ein paar Räusche, wie sie wohl alle mal erleben. Aber nie hatte ich das Gefühl, nicht selbst ganz leicht entscheiden zu können, ob ich Alkohol trinke oder nicht. Für mich gibt es nichts Einfacheres, als auf Alkohol zu verzichten. Es ist etwa 7 Jahre lang her, dass ich das letzte Mal das Gefühl hatte, zuviel getrunken zu haben. Den Kater, der diesem Gefühl auf den Fuß folgte, hab ich mir gemerkt. Seither habe ich nie wieder das Gefühl gehabt, betrunken zu sein, nie mehr als ein paar Gläser Wein getrunken. Das bedeutet aber nicht, dass es für andere Menschen genauso einfach ist. 

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Übergewicht: Was für den einen leicht kontrollierbar ist, ist es für den anderen eben nicht. Kein Übergewichtiger braucht die Info, dass er weniger essen soll. Und die wenigsten brauchen Informationen über gesunde Ernährung. 

 

Ich habe einmal mit einem Menschen gesprochen, der in seinem Leben 3 Süchte hatte und sie alle überwunden hat: Er hat aufgehört, zu rauchen, aufgehört, zu spielen und hat 20 Kilo abgenommen. Er hat mir erzählt, dass das Abnehmen bei weitem das Schwierigste für ihn war. Laut ihm war es deshalb schwerer, weil man einfach "nicht mehr rauchen" oder "nicht mehr spielen" kann. Man kann aber nicht "nicht mehr essen", sondern ist täglich und den ganzen Tag lang mit Essen konfrontiert. Man stelle sich vor, ein Spielsüchtiger müsse zwangsläufig jeden Tag ins Casino gehen und eine geringe Summe Geld einsetzen, dürfe aber nicht mehr rückfällig werden und "zu viel" verspielen. 

 

Das bedeutet natürlich nicht, dass ich Esssucht als eine schwierigere Sucht generalisieren würde – es bleibt dabei, dass es für jeden mit Suchtproblemen anders ist. Aber ich könnte mir vorstellen, dass diese Vergleiche für manche eine Seite beleuchten, die sie bisher noch nicht betrachtet haben. 

Schlecht gemeinter Ekel

Eine Sache, mit der ich zugegebenermaßen schlecht zurechtkomme, ist der Ekel, den manche Menschen vor Übergewichtigen haben. Mir ist einfach nicht ganz klar, wieso ein magersüchtiges Mädchen für seine Probleme bedauert wird und ein übergewichtiges Mädchen verachtet wird. Vielleicht liegt es daran, dass das magersüchtige Mädchen zwar ungesund und krank ist, aber doch ein wandelndes Beispiel für Selbstdisziplin darstellt. Sie hat sich unter Kontrolle und wird dafür von einigen unbewusst bewundert. 

 

Das übergewichtige Mädchen hingegen ist ein wandelndes Beispiel für das Sich-gehen-Lassen, vor dem viele Menschen Angst haben. Die Ablehnung, die sie dem eigenen Schweinehund gegenüber empfinden und die ihnen hilft, sich selbst zusammenzureißen, empfinden sie auch einem Menschen gegenüber, der diesen Schweinehund im wahrsten Sinne des Wortes ver-körpert

 

Nichts davon ist schwarz oder weiß. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die zu Dünne eklig finden oder sich von ihnen geradezu "angegriffen" fühlen – als würden sie mit ihrem Körper hinausschreien, dass jeder nicht so schlanke Mensch ein fauler Fettsack ist. Ich kenne einige Menschen, die ihr Gewicht kaum in einem normalgewichtigen Bereich halten können und sich sehr schwer dabei tun, zuzunehmen. Fast alle von ihnen leiden auch darunter, dass ihnen manche (vor allem jene, die selbst Gewichtsprobleme haben) mit ziemlichem Hass gegenübertreten oder auch "nur" auf die Nerven gehen, dass sie einfach mehr essen sollen. 

 

Und trotzdem wissen (zu) dünne Menschen nicht, wie es sich anfühlt, adipös zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, für dumm, undiszipliniert und faul gehalten zu werden, ist riesig und der Hass, der einem entgegenschlägt, oft um einiges höher als bei Untergewichtigen. Zu dünne Menschen entsprechen nun mal eher einem gewissen Ideal, während es wenige Menschen gibt, die stark Übergewichtige als schön empfinden.