Katzenfische und andere Androiden

Es ist etwas passiert. Ich habe ein Exemplar einer gar nicht so seltenen, aber extrem scheuen Gattung entdeckt: einen "Catfish". Kennst du nicht? Dann pass mal gut auf, denn deine Facebook-Freunde könnten ein Geheimnis haben ...

Mein Facebook-Netzwerk besteht zu 70 % aus Leuten, die ich zumindest entweder vom Sehen oder vom "Wegsehen" her kenne. 

20 % sind Leute, die ich nur online kenne, aber mit denen ich über Facebook in Kontakt bin: andere Sängerinnen, andere Lektoren und Korrektoren, Autoren, Musiker, Kunden. 

Die restlichen 10 %? Ich hab keine Ahnung. Ich weiß bei denen meistens nicht mal mehr, wer wem eine Freundschaftsanfrage gestellt hat und wie es überhaupt dazu kam. Einige von ihnen sind Self-Publisher oder haben sonst irgendetwas in die Welt hinauszutragen oder zu verkaufen. Es sind diese Leute, die einfach alles anfrienden, was einen Kommentar von ihnen liked. Ihnen gegenüber stehen dann Leute, die mal "vorsichtshalber" jeden annehmen – auch nicht so klug, aber was soll's (okay, ich sollte echt mal wieder "ausmisten").

Einer dieser "Freunde", von denen ich keine Ahnung habe, woher ich sie kenne, ist recht unscheinbar. Immer wieder postet sie etwas, sie will nix verkaufen, sie will nix herzeigen. Ihr Name ist "Lisa Bauer" – ein in Österreich so ungewöhnlicher und einprägsamer Name wie Hans Huber. 

 

Eines Tages fand ich auf einem ihrer Bilder im Hintergrund jemanden, den ich vom Sehen (nein, nicht vom Wegsehen) her kenne. Ich hab sie per PN darauf angesprochen und schnell gemerkt, dass sie sich windet und widerspricht. Irgendwie fand ich das seltsam. Die kurze "Rückwärtssuche" bei Google Bilder hat ergeben, dass es das Foto einer Grazerin ist, die einen völlig anderen Namen hat. Nach längerem Hin und Her und viel Generve meinerseits hat sie mir ein paar Fragen beantwortet. 

 

Lisa heißt eigentlich "Julia" (obwohl ich natürlich nicht weiß, ob sie wirklich so heißt oder das nur ein weiterer Allerweltsname ist). Sie schwört, eine junge Frau aus Graz zu sein, die selbst ein "normales" Facebook-Profil hat. Natürlich hat sie mir dieses nicht gezeigt, schließlich könnte ich sie ja verraten. Julia könnte also eigentlich auch ein 70-jähriger Bayer mit einem Holzbein sein. 

Julia/Lisa arbeitet in der Social-Media-Abteilung eines großen Unternehmens (?) und hat dort gelernt (!), wie man ein Fake-Profil pflegt. Richtig gelesen, das scheint offenbar ein völlig normales Vorgehen bei Unternehmen zu sein, um "echte Kundenbewertungen", Hilfe bei Shitstorms oder Kritik am Konkurrenten künstlich zu erzeugen. Sie pflegt ein Fake-Profil für die Arbeit – aber auch eines für private Zwecke.

 

Eine solche Identität nennt man "Catfish". Urbandictionary.com sagt: "A catfish is someone who pretends to be someone they're not – using Facebook or other social media – to create false identities (...)." Vorwiegend wird dieser Begriff zwar im Zusammenhang mit Online-Dating benutzt, aber es funktioniert auch in anderen Zusammenhängen.

 

Julia/Lisa hat mir verraten, wie sie beim Eröffnen eines Fake-Profils vorgeht: 

1) Wähle einen Namen. Choose wisely.

Wähl einen Namen, von dem dir niemand beweisen kann, dass es ihn NICHT gibt. Und von dem es so viele verschiedene Personen mit demselben Namen gibt, dass niemand herausfinden kann, dass dein Fake-Mensch NICHT existiert. 

 

Beliebte Fake-Vornamen für Leute zwischen 20 und 35: Lisa, Julia, Stefan, Anna, Daniel, Christian, Thomas. Auf jeden Fall sollte man einen der häufigsten Vornamen für die ungefähren Generationen wählen. Eine 20-jährige Hilde fällt auf.

 

Nachnamen sollte man je nach Herkunftsort der fiktiven Person auswählen. In der Steiermark gibt es vor allem Strohmeiers, Reiterers und Schwarzls. In Wien Grubers und Hubers und Webers. (In meinem Schuljahrgang gab es übrigens zwei Michael Hubers. Ursprünglich sollten sie sogar in dieselbe Klasse gehen. Einer der beiden wurde aber am ersten Schultag in die andere Klasse versetzt, damit es nicht dauernd Verwechslungsprobleme gibt.)

 

2) Fotos: Such dir deine "Quelle".

Wer immer wieder mal neue Bilder von sich posten will, sollte nicht einfach das erstbeste Profilfoto irgendeiner unbekannten Person oder Stockfotos als Profilbild verwenden. Schließlich muss das Profil ja echt aussehen und das tut es nur, wenn es immer wieder mal neue Fotos gibt. 


Julia/Lisa hat drei große "Fehler" gemacht:

  • Erstens hat sie eine Grazerin als Fotoquelle ausgewählt. Blöde Idee, weil Graz einfach ein Kuhdorf ist. Die Vorlageperson sollte nicht aus derselben Stadt wie die Fake-Person kommen. Vor allem nicht, wenn man mit dem Fake-Profil wiederum Leute aus derselben Stadt anfriendet. Am besten wählt man jemanden aus, der aus einem anderen Land als die Fake-Person ist und viele, viele verschiedene Fotos (vielleicht sogar auf anderen Plattformen oder sonstwo im Netz) hat. 
  • Zweitens waren auf dem Foto andere mit abgebildet. Das ist ein Problem, weil diese "Freunde" natürlich nicht markierbar sind und nichts dazuschreiben, was schon mal auffällig ist. Außerdem steigt mit der Anzahl der Leute auf den Bildern wieder die Gefahr, dass jemand einen davon erkennt. 
  • Drittens hat sie das Bild genau so gepostet, wie es auch im Original zu finden war. Profis verwenden das Ursprungsbild und schneiden es zu, legen Filter drüber oder passen es in hübsche Rahmen ein. So wird es bei einer Rückwärtssuche auf Google Bilder nicht mit dem Originalbild in Verbindung gebracht.

By the way: Die "Anleitung" hier bezieht sich rein darauf, wie ein Fake-Profil entsteht. Raten würde ich das niemandem – und bei dem Diebstahl von Fotos wird es außerdem nicht mehr nur creepy, sondern auch ziemlich kriminell. 

3) Such dir Freunde.

Die größte Herausforderung. Klar, natürlich kennt einen niemand, wie soll man da Freunde finden?

 

Idealerweise begibt man sich in zugegebenermaßen zweifelhafte Gruppen, die sich zum Beispiel "Addbörse" nennen. Die Leute, die man dort anfriendet, sind wahrscheinlich selber Fakes und nehmen alles an. Schreibt man selbst dort einen "Kennenlernbeitrag", kann man sich vor Anfragen nicht mehr retten. Der Nachteil dabei: Es melden sich etwa fünf Mal täglich irgendwelche Typen, die dir ihre Würmchen zeigen wollen. Außerdem erhältst du ständig Einladungen zu Seiten, Anfragen zu irgendwelchen Facebook-Spielen und so weiter.

Zusätzlich: Freunde dich mit Leuten an, die sowieso jeden annehmen. Das machen zum Beispiel manche Halbpromis, Self-Publisher oder Leute, die im Multi-Level-Marketing arbeiten und Diät-Shakes, Tupperware und Cremes verscherbeln. Dann kannst du wiederum deren Freundeslisten durchgehen. Jedem, mit dem du mehr als einen gemeinsamen Freund hast, schickst du wieder eine Anfrage. Und feddich. 

4) Du brauchst eine Story.

Ist jemand in relativ jungem Alter neu auf Facebook und hat dann auch noch relativ wenige Freunde, so gibt es Erklärungsbedarf. Vielleicht musst du neuen "Freunden" per PN erklären, wieso du neu auf Facebook bist und kaum Freunde hast. Aber auch Leute, die sich dein Profil anschauen, sind skeptisch. Mit ein paar bewusst naiven und ungelenken Postings kann man den authentischen Eindruck wahren. Überleg, wie sich Facebook-Neulinge verhalten. Sie glauben, mit ihren Postings sofort die ganze Welt zu erreichen und viele Reaktionen auf "Hallo! Ich freu mich, hier zu sein! Na da bin ich mal gespannt, wie Facebook so funktioniert" zu bekommen. Lass Emojis, Farben, markierte Orte und "Gefühl/Aktivität" lieber weg, das sieht nicht wirklich nach einem Neuling aus. 

 

Überleg dir aber auch eine echte Backstory, damit du nicht überlegen musst, wem du was erzählt hast. "Lisa" hat sich laut Julia vor kurzem von ihrem Freund getrennt und alle gemeinsamen Freunde sind bei ihm geblieben. Jetzt ist sie in eine neue Stadt gezogen und sucht Anschluss und hat sich deshalb endlich bei Facebook angemeldet, von dem ihr Exfreund nix hielt. Ganz schön abhängig, diese Lisa.

5) Nutz dein Profil.

Ok, was Unternehmen mit Fake-Profilen anstellen, kann ich mir denken. Seit kurzem häuft sich bei den beiden größten Filialketten für Lebensmittelhandel eine bestimmte Art des Shitstorms: Ein Kunde beschwert sich über eine absolute Lächerlichkeit (wie z.B., dass die Wurstsemmel schief geschnitten wurde), woraufhin sich Hunderte Kunden einmischen und den Ursprungsposter lächerlich machen. Zugegeben: Das ist verdammt schlau. Unternehmen haben nun so lange versucht, gegen Shitstorms vorzugehen oder selber Lovestorms anzuzetteln. Dabei ist es wie es ist: Die Leute schmeißen viel lieber mit Scheiß um sich, als sich öffentlich zu einem Produkt zu "bekennen". Also zettelt man einen Shitstorm an, bei dem man selbst super aussteigt und von Hunderten Leuten verteidigt wird. Solange es ums Scheiß-Schmeißen geht, kann man dann auch gerne für ein Unternehmen einstehen. 

 

Relativ unklar war mir jedoch, wieso Julia/Lisa so viel Zeit und Gedanken in das "private" Fake-Profil steckt. Was hat man davon, was macht man damit? 

Julia/Lisa sagt, sie würde es gar nicht besonders oft für etwas Bestimmtes benutzen. Sie möchte es einfach "für den Notfall" haben. Damit stalkt sie zum Beispiel Leute, die sie blockiert haben und manchmal pflichtet sie sich bei einem öffentlichen Streit in einer Gruppe selber bei. Manchmal, wenn sie von ihrer Arbeit genervt ist, schreibt sie ihrem eigenen Unternehmen eine schlechte Bewertung. Außerdem nutzt sie es für die Teilnahme an Gruppen, von denen in ihrer echten Welt niemand wissen soll, dass sie überhaupt Mitglied ist.

 

Dass das irgendwie wirklich schräg ist, ist klar. Mir ist absolut schleierhaft, wie man so viel Zeit da reinstecken kann. Ich gebe zu, ich hab es sogar selbst mal versucht, ein Fake-Profil (ohne Profilbild und nur für die geheime Teilnahme an Gruppen) zu pflegen – aber will man auch echt aussehen, dann ist das ein Halbtagsjob, dafür ist mir meine Zeit echt zu schade.

Vor allem aber ist das Vorgehen von Lisa/Julia eigentlich auch ziemlich kriminell – schließlich stiehlt sie die Fotos ihrer "Quellen". Das weiß "Lisa" natürlich und deshalb verwundert es mich nicht, dass ihr Profil auf einmal nicht mehr aufzufinden ist. Sie hat es gelöscht.

Was ist ein echtes Profil?

Ich denke zurück an die 20 % meiner Facebook-Freunde, die ich nur online kenne. Einige davon (vor allem die Sängerinnen) posten sehr oft Videos und Fotos und werden auf Fotos von vielen anderen Usern markiert. Von anderen kenne ich nur ein paar Profilbilder, wenn überhaupt. Wie viele von ihnen heißen tatsächlich so, wie viele sehen tatsächlich so aus, wie viele haben tatsächlich das Alter und den Wohnort, den sie angeben? 

 

Gerade hab ich hintereinander drei Romane von Philip K. Dick gelesen und die Frage, ob man einen unechten Menschen von einem echten unterscheiden kann, spielt bei allen seinen Geschichten eine Rolle. Vor wenigen Jahren war diese Frage nach der Erkennbarkeit eines Androiden noch ferne Zukunft – doch jetzt ist sie plötzlich über die Hintertür der sozialen Medien in unsere Gegenwart spaziert. Können wir echte Profile von unechten unterscheiden? Was, wenn sich vollautomatisch erstellte Profile nicht mehr von echten Profilen oder Fake-Profilen eines menschlichen Users unterscheiden lassen? Und wenn ich mir so manche modelmäßigen Profilbilder von Leuten ansehe, die ich im echten Leben kenne, frage ich mich: Was ist ein "echtes" Profil? 

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Kommentare: 3
  • #1

    Le Docteur (Sonntag, 06 August 2017 13:46)

    Das mit dem Vergleich zu PKD find ich ziemlich cool :-) und passend!

  • #2

    Claudia G. (Montag, 07 August 2017 20:38)

    Witzig! Mir blieb gar nix anderes übrig, als den Artikel auf Facebook zu teilen, damit aktuelle und potentielle Stalker sich endlich mal bissel mehr Mühe geben. ;)

  • #3

    Juliane (Montag, 07 August 2017 22:39)

    Wenn man schon belästigt wird, dann doch mit ein bisschen mehr Engagement, bitte! :)